Folge 7
… dass ich damals nachts auf einem menschenleeren Bahnsteig saß und einen Brief an meinen Onkel schrieb. Ich hatte Zeit, bis mein Anschlusszug kam. Ich nutzte sie, um mir Gedanken zu machen – über die Zeit und gerade über jene Zeit. Es war eine Zeit des Abschiednehmens: Meine Tante, die Frau meines Onkels, war gestorben, und ich war auf dem Sprung. Für mich endete die Zeit des Aufwachsens im Elternhaus, und es begann eine Zwischenzeit, eine Zeit zwischen dem was war und dem was kommen würde, der Studienzeit, 400 Kilometer von zuhause entfernt. Zwischen einst und demnächst lagen 15 Monate Wehrdienst, 15 Monate verlorene Zeit, wie ich dachte. Bis Mitternacht musste ich zurück sein in der Kaserne.
Die Zeit wird vergehen, sagte ich mir damals – etwas mehr als ein Jahr. Ich freute mich auf das neue Leben danach. Auf eine neue Umgebung, neue Menschen, neue Herausforderungen. Ich lebte mit Blick auf die Zukunft, und bei dem Gedanken daran fiel mir der Abschied vom Gewohnten nicht besonders schwer.
Auf der einsamen Bank unter dem Bahnsteigdach, den Schreibblock auf meinen Knien, bemühte ich mich, meinem Onkel ein bisschen von dieser Sichtweise, dieser Hoffnung, dieser Überzeugung abzugeben. Ich, gerade 18, konfrontierte meinen lebenserfahrenen Onkel mit meinen Betrachtungen über die Relativität von Zeit, die in Momenten des Glücks und des Erfolgs viel zu schnell vergeht und bei Misserfolg und Trauer so zäh und langsam verstreicht, beides aus verschiedener Warte sogar gleichzeitig, und die doch ein und dieselbe Zeit ist. Ich versuchte ihn zu trösten, und als ich daran dachte, wie ich aufwuchs und wie ich ihn erlebte, fand ich, dass es für jeden von uns beiden manch wertvolle Zeit gegeben hatte. Und vielleicht, dachte ich, könnte man davon das ein oder andere mitnehmen, in der Erinnerung, und es bewahren.
So ungefähr schrieb ich damals meinem Onkel. Dann kam mein Zug, pünktlich. Es ging weiter.