Lieben – nicht lieb sein
Liebe ist eine revolutionäre Kraft.
Sie ist umwerfend.
Sie verändert die Sicht auf das Leben und die Wahrnehmung dessen, was uns zum Leben wichtig ist. Sie wirft uns aus der Spur so sicher geplanten Lebens. Sie fördert die Kräfte, um der neuen Spur zu folgen, gibt Orientierung wie durch einen neujustierten Kompass. Liebend entwickeln wir Antennen und Sensoren für das Wohlergehen dessen und derer, die wir lieben.
In der personalen Beziehung finden wir so wieder Wege zueinander, wo wir uns im Eigensinn verlaufen und verloren haben. Gerade dann, wenn starke Typen miteinander den gemeinsamen Weg suchen, ist die klare Ansage der je eigenen Überlegungen und Wünsche Voraussetzung für die gemeinsam zu erarbeitende Entscheidung und das Vermeiden fauler Kompromisse.
Lieb sein, Nett sein, Brav sein – jene immer wieder angestrebten Erziehungsziele und Verhaltensregeln erweisen sich als trügerische Fallen. Anpassung, Verleugnung eigener Wünsche und Ziele untergraben und verhindern die bewusste, gemeinsame Neuorientierung. Sie unterlaufen eine gemeinsam entwickelte und getragene Entscheidung, werden zum Spaltpilz der Liebe.
„Lieb sein“ wird zu Komplizen unwürdiger und entwürdigender Zustände, dort wo Gerechtigkeit, Solidarität und Barmherzigkeit die Umgestaltung der Zustände fordert.
Wenn das Unrecht zum Himmel schreit, die umstürzende, revoltierende Kraft der Liebe gefordert ist, kehrt „Lieb sein“ der Liebe den Rücken. Anpassung und Untertänigkeit werden Mittäter der Entwürdigung.
Der „liebe Gott“ – zu häufig als Leitbild des „Liebseins“ missbraucht ist kein Chefkoch für Harmoniesoßen. Dieser Gott zeigt um der Liebe willen „klare Kante“, verlangt deutlich Gerechtigkeit und Befreiung vom entwürdigenden Joch. Seine Propheten waren keine diplomatischen Eiertänzer, sondern Boten umstürzender Forderungen.
„Lass mein Volk ziehen“ ließ Gott dem Pharao durch Moses sagen. Als der sich weigerte, kam von Jahwe kein „Dann eben nicht“ und „Ich hab´s ja versucht“, sondern die klare Kampfansage. Als nach Naturkatastrophen und Todesengeln das rote Meer endlich grüne Welle gab, schaltete der „liebe Gott“ hinter den Israeliten die Ampel um, was die Ägypter gar nicht „lieb“ fanden.
Die biblischen Erfahrungen berichten vom Zorn Gottes bei unhaltbaren gesellschaftlichen Zuständen, wenn das Unrecht zum Himmel schrie, ein Volk unterdrückt und über Gebühr belastet war.
Auch der „holde Knabe im lockigen Haar“, jenes liebreizende Kind aus süßlicher Weihnachtsidylle war alles andere als ein lauer Typ. Die von dem Zimmermannssohn aus Nazareth geforderten und gelebten Werte der Bergpredigt waren kein Flower-Power-Wellnessprogramm. Dafür hätte ihn niemand ans Kreuz genagelt.
Sein ruhiges „der werfe den ersten Stein“, sein unaufgeregtes „dem Kaiser, was der Kaisers ist“, sind Positionierungen aus innerer Stärke – Kampfansagen gegen Unrecht und Liebesverweigerung.
Seine Tempelreinigung war kein Frühjahrsputz, sein Leben und Tod eine klare Botschaft:
Nicht Revolte oder Lieb sein ist die Alternative, Liebe ist die Revolution!
Im Glauben der Christen ist seine österliche Auferweckung die Unterschrift des liebenden Gottes unter dieser gelebten, umstürzenden Botschaft.
Diese Unterschrift lädt uns ein zur Nachfolge und bestätigt endgültig:
Wir sind frei – frei zu lieben!
Text: Josef Hülkenberg, Frei zu lieben (S.94), TREDITION 2012
Vielen Dank, lieber Josef Hülkenberg, für die Einsendung der Texte!