Folge 5
… wie ich damals meinen Bruder befreite. Im Gegensatz zu mir reizten ihn die in Büchern geschilderten Abenteuer kaum. Lieber war er selbst ein kleiner Abenteurer, der mit anderen Jungen durch Wald und Feld streifte. Vor allem kletterte er gerne, mit Vorliebe auf Bäume. Einmal suchte ihn die gesamte Familie vergeblich, bis einer von uns ihn nach Stunden entdeckte: Hoch oben im Geäst der großen Esche in Nachbars Garten, stillschweigend.
Einmal war er wieder unterwegs in seiner abenteuerlichen Welt, als einer seiner Kumpels an unserer Haustür klingelte und berichtete, dass mein Bruder auf einem Baum hocke und nicht herunterkommen könne, weil die anderen Mitglieder der Bande sich gegen ihn verschworen und den Baum umzingelt hätten und mit unreifen Pflaumen oder kleinen Steinen nach ihm würfen. Der Überbringer der Nachricht, offenbar einziger wahrer Freund meines Bruders, war aus der Runde getürmt, um mich zu Hilfe zu holen.
Ich, der Stubenhocker und Bücherwurm, analysierte die Lage vor dem Hintergrund meiner umfänglichen Karl-May-Lektüre und wusste sogleich, dass ich mich als einer gegen viele und zudem ohne irgendwelche Hilfsmittel einer List bedienen musste, wollte ich meinen Bruder aus seinem unfreiwilligen Arrest befreien. Während vielleicht zwei Kilometern Fußweg zum Tatort blieb mir Zeit, mir einen Trick, einen Bluff für einen überzeugenden Auftritt einfallen zu lassen.
„Lasst ihn runter“, sagte ich den vier oder fünf Belagerern mit bemüht cooler Western-Stimme. „Er hat Scharlach und muss dringend seine Medizin einnehmen.“ Was für eine Krankheit das war, wusste ich nicht, ich hatte Erwachsene respektvoll davon reden gehört und fand, dass das Wort dramatisch klang.
„Kann man davon sterben?“ fragte einer der Jungen mit skeptischem Blick nach oben. „Das ist ansteckend. Ich glaub‘ so ähnlich wie Pest“, meinte ein anderer, den ich für den Banden-Chef hielt. Ich guckte ernst und nickte.
Fast hätten sie meinem Bruder geholfen, vom Baum herunterzuklettern. Aber dann zogen sie es vor, schnell zu verschwinden. Als sie weg waren, haben wir erleichtert gegrinst, mein Bruder und ich, damals.