IKARUS

„Schnell“, ruft Moische „beeilt Euch! Bringt Decken, Kissen – was Ihr habt. Aber beeilt Euch!“ Seine Stimme überschlägt sich fast. Moische glaubt seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Hoch am Himmel trudelt ein Wesen der Erde entgegen. Wie ein Riesenvogel, aber auch wie ein Mensch sieht es aus. Größer als der Habicht, den David vor einigen Jahren geschossen hat. Doch ebenso waidwund.

Wenn dieses Wesen beginnt, wie ein Stein zu fallen, zerschmettert es am Boden. Solang es noch trudelt, sieht Moische eine kleine Chance, den Sturz abzufangen, den Aufschlag zu mildern. Darum: „Beeilt Euch, Kissen, Decken, Heu – fangt es auch mit Euren Armen auf!“

Die Dorfbewohner sind verwirrt. Gebannt und fasziniert verfolgen sie den Absturz des seltsamen Wesens. Nur wenige reagieren auf Moisches Anruf.

„Ein Mensch mit Flügeln?“, der alte Levi schüttelt den Kopf „die Ikarusse sind wohl nicht klein zu kriegen.“

Sarah glaubt, es sei ein Engel, der auf ihr Dorf zuflöge. „Ein Engel,“ lästert Samuel, „so wie der trudelt, kann es nur ein gefallener Engel sein.“ „Wahrscheinlich hat er sich mit Gott gestritten. Dann ist es ein gestoßener Engel.“, vermutet Rabbi Nathan. „Wir sollten uns darum zurückhalten. Es ist nicht gut, sich in einen Streit zwischen Gott und den Heerscharen einzumischen.“

Sein Weib Esther fährt ihm in die Parade: „Red nicht solchen Stuss, alter Pharisäer. Hatte er Streit mit Gott, dann braucht er unsere Hilfe ganz besonders. Nur unter Menschen kann er sich mit Gott versöhnen. Also mach Dich auf die Socken und hilf Moische.“

Doch Moische braucht nur noch wenig Helfer.

Einige Decken reichen, um die Spuren des Aufschlags zuzudecken.

 

Vielen Dank, lieber Josef Hülkenberg, für die Zurverfügungstellung des Textes „Ikarus“ aus

FREI ZU LIEBEN, S. 35, TREDITION Hamburg, 2012

Bild: Marc Chagall, Der Sturz des  Ikarus, 1975 aus: Wikioo.org – Die Enzyklopädie bildender Kunst

 

Zum Autor

Josef Hülkenberg, Dipl.-Sozialpädagoge, (*1951, Bocholt/Westf.) geht einen ungewöhnlichen Weg, Menschen zu ihren Visionen, gesellschaftlichen Vorstellungen oder Lösungen zu befragen und zu ermuntern.

Sein Haus in Köln hat er verkauft, den Hausrat verschenkt. Auf „Demokratie-Pilgerwegen“ zog er 2007 und 2009 durch Deutschland, lädt ein zum sozialethischen Dialog und setzt unauffällig Impulse für demokratische Reflexionen und Weiterentwicklungen.

Mit der denk!BAR®mobil reiste er von 2008 bis 2017 durch Deutschland, der Schweiz und Österreich. Dabei besuchte er regionale Projekte und führt Gespräche mit den Bürgern vor Ort. Seit 2018 wieder sesshaft in Bocholt hält er weiterhin Seminare und Vorträge, moderiert Tagungen,

Seit der Lehrzeit als Feinmechaniker und dem Engagement in der Christlichen Arbeiterjugend-CAJ engagiert er sich in Projekten und Organisationen, um zu mehr Humanität, Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft beizutragen.

Als Initiator und Leiter von Beschäftigungsmaßnahmen für arbeitslose Mitmenschen, als Mitarbeitersprecher in der Regional-KODA-NW, in Vorstandsmandaten katholischer Verbände und Organisationen, als Vorsitzender der Sachausschüsse „Kirche und Arbeitswelt“ und „Kirche – Staat – Gesellschaft“ im Diözesanrat Kölner Katholiken setzte er nachhaltige Impulse für ein modernes Laienapostolat auf Augenhöhe. Im Auftrag des Kölner Diözesanrates berät und begleitet er Pfarrgemeinderäte in ihrer Arbeit.

Hülkenberg ist freiberuflicher Erwachsenenbildner mit dem Schwerpunkt politisch-sozialer Bildung. Er war Mitbegründer des „Regionalen Aufbruch“ und bis März 2016 Mit-Koordinator der „Initiative Verfassungskonvent“. Er setzt er sich seit Jahren mit den Grundfragen moderner Demokratie auseinander. Längst hat er die noch gängige Vorstellung überwunden, eine Korrektur funktionaler Strukturmängel (z.B. Einführung von Volksentscheiden) führe bereits zur besseren Demokratie. Er sieht die zentrale Herausforderung in wertorientierter Legitimation und Akzeptanz des je konkreten Regierungshandelns. Solche Legitimationen erwachsen aus konsensorischen Diskursen des Volkes.

Den vielfachen Analysen misslicher und ungewollter Zustände setzt er den Blick auf die Möglichkeiten ethischer und kultureller Neuorientierung entgegen. Seine Erfahrungen bringt er auf den Nenner:

+* Positives multiplizieren – und Leben gewinnt

Unregelmäßig verfasst er Texte für seinen Blog www.denkbar-mobil.de