Kurz vor Weihnachten, die Paketdienste liefern und liefern ringsum in der Nachbarschaft. Die Spannung steigt. Und dann passiert’s. Was genau, davon berichtet die folgende Geschichte von Achim van Nörden, ursprünglich erschienen im Magazin „Klammer Auf“.
Immer öfter, wenn ich nach Hause kam, stand das Fahrrad meiner Frau vor der Tür. Ich hielt das für Bequemlichkeit, bis ich feststellte, dass in unserem Fahrradschuppen kein Platz mehr war. Dort stapelten sich Pakete. Adressiert an unsere Nachbarn links und rechts und gegenüber, die nie da waren, wenn die Paketdienste anrollten. Jene hatten stattdessen uns als fast ständig besetzte Annahme- und Verteilstation ausgemacht. Die Sache hatte Vorteile nicht nur für unsere Nachbarn. Wenn wir, meist gegen Abend, die Päckchen und Pakete auslieferten, reichte das über das sonst übliche „Hallo“ hinaus meist für einen Wortwechsel und den Austausch wichtiger Informationen zum aktuellen Stand der Dinge. Etwa darüber, was die Kinder so machten oder ob Oma wieder aus dem Krankenhaus raus war.
Es war am ersten Weihnachtstag – wir erholten uns ein wenig vom Verteilen der besonders vielen Pakete-Lieferungen und unserem eifrigen Spekulieren über deren Inhalt und damit verbundene Geschenk-Ideen -, als wir von draußen ein leises Schnurren hörten. Es kam aus dem Nachbargarten der Schmeinks. Junior Jason Elias, gerade zwölf, war vom Weihnachtsmann in Gestalt seines mit im Hause wohnenden Großvaters zum stolzen Drohnen-Piloten gemacht worden und absolvierte als solcher seinen Jungfernflug. Was nicht immer so ganz weihnachtlich-friedlich zuging, weil sowohl der Opa als einstiger Kampfflieger als auch der Papa, immerhin Mitglied im Segelflug-Verein, mit klugen Ratschlägen nicht geizten.
Weihnachten war gerade vorüber, die Pakete mit den Winterschlussverkauf-Schnäppchen trafen ein. Nach unserem Empfangs- und Zustell-Schichtplan, den wir mittlerweile festgelegt hatten, war meine Frau mit dem Ausliefern dran, wozu wir unsere Sackkarre benutzten. Als sie zurückkam, erzählte sie, Frau Schmeink habe sie gefragt, wie uns denn kürzlich der Riesling zum Rinderbraten gemundet habe. Ich stutzte. Woher wusste Frau Schmeink…? „Ich habe es ihr, glaube ich, neulich erzählt“, meinte meine Frau.
Zwei Tage später kehrte sie ziemlich aufgeregt von ihrer Liefer-Schicht heim: Diesmal habe dieselbe Nachbarin mit diebischem Vergnügen berichtet, dass eines der Päckchen, die an Frau Klein-Uebbing schräg gegenüber geliefert worden seien, rote Spitzendessous enthalten und sie diese gleich ausgepackt habe. „Wohl kaum, um ihren Mann zu beeindrucken“, habe Frau Schmeink grinsend hinzugefügt, der ja ohnehin farbenblind sei. Und ein Haus weiter, wusste sie, arbeite Herr Tenbensel an irgendwelchen offenbar geheimnisvollen Plänen und ziehe deshalb stets die Wohnzimmer-Vorhänge zu. Jetzt wurde ich vollends hellhörig. „Ab sofort übernehme ich das Ausliefern der Pakete“ sagte ich. Das Transportieren mit der Karre sei für meine Frau sowieso zu schwer. „Wo es gerade beginnt, Spaß zu machen“, protestierte sie.
Mir gegenüber war Frau Schmeink verschwiegener. Mag sein, dass sie mein latentes Misstrauen spürte. In der Tat begann ich nach den jüngsten Geschehnissen ständig die Ohren zu spitzen. Sobald ich glaubte, ein Geräusch zu hören, das nicht aus unserer Wohnung kam, betrat ich vorsichtig Terrasse oder Balkon. Aber ich entdeckte nicht, was ich vermutete.
Bis zu jenem Montagvormittag. Nachdem sie eine Weile schweigend gegrollt hatte, hatte ich meiner Frau wieder die Lieferrunde überlassen, und sie war in der Stadt, um sich dafür einen Bollerwagen zu besorgen. Ich war folglich allein zuhause, als ich wieder dieses Summen hörte. Ich ging auf den Balkon und hielt, halb hinter dem aufgespannten Sonnenschirm versteckt, Ausschau. Plötzlich ein Knall. Instinktiv duckte ich mich hinter das Balkongeländer, bekam so eben noch aufgeregtes Geflatter im Taubenschlag hinter dem Haus der Groß-Böltings mit und hörte etwas in Wasser plumpsen. Danach war Stille. Ein paar schnelle Schritte. Vorsichtig richtete ich mich aus meiner Deckung auf, sah aber niemanden.
Am nächsten Morgen berichtete das Volksblatt vom „Mord im Taubenschlag“. Die erfolgreichste und wertvollste Taube des Züchters Hermann-Josef G. sei mit einem gezielten Schuss niedergestreckt worden. Dazu ein Foto des fassungslos dreinblickenden, sonst so forschen Groß-Bölting. Die Kripo, so stand dort, verdächtige einen anderen Taubenbesitzer, dessen bester Vogel bei den Preisflügen stets von Groß-Böltings Top-Taube abgehängt worden sei. Aber was war mit dem Plumps ins Wasser und mit den Schritten, fragte ich mich, während meine Frau meinte, ich müsse zu dem trauernden Vogelliebhaber rübergehen, um zu kondolieren.
Auf dem Weg dorthin hätte ich dies auch gleich bei Nachbar Klein-Uebbing tun können. „Tod im Teich“ wäre hier die passende Schlagzeile gewesen. Im tiefen Gewässer seines Gartens waren seine wertvollen Kois verendet – erschlagen oder zu Tode erschreckt von einem unbemannten Flugobjekt, wie er schwer geknickt erzählte. Das Corpus Delicti hatte er aus dem Becken gefischt: Eine Drohne mit Kamera.
In den folgenden Tagen war an einen geregelten Paket-Zustelldienst kaum zu denken. Zwischen den Fahrzeugen von UPS, DHL, Hermes und Co. eilten emsige Versicherungsvertreter ebenso umher wie ermittelnde Kriminalbeamte, die für Groß-Böltings Tauben ein vorübergehendes Flugverbot verhängt hatten. Gerade jetzt hätte uns mehr denn je an Haustürgesprächen und den damit verbundenen Informationen und notfalls auch Spekulationen gelegen.
Stattdessen sahen wir uns im Gerichtssaal. Die Schmeinks, die Tenbensels, die Groß-Böltings und die Klein-Uebbings, wir alle. Die ganze plötzlich verschwiegene Nachbarschaft. Als Zeuge konnte ich zur Aufklärung des Sachverhaltes nicht viel beitragen. Aber wir erfuhren, dass der als Taubenmörder Verdächtigte für die Tatzeit ein Alibi hatte und hörten mit Erstaunen, dass der Einschusswinkel des im Taubenschlag gefundenen Projektils eine Flugbahn erahnen ließ, deren Ausgangspunkt vermutlich Tenbensels Terrasse war. Dessen Einlassung, er besitze gar keine Waffe, widerlegte Frau Klein-Uebbing mit dem ihr mühsam entlockten und zögerlich vorgetragenen Geständnis, sie als Sportschützin habe ihr Gewehr „dem Günni“ gezwungenermaßen kurzfristig ausgeliehen, nachdem dieser sie unter Druck gesetzt habe, andernfalls ihr Verhältnis mit Hermann-Josef Groß-Bölting publik zu machen. Obwohl wir alle davon wussten – bis auf ihren farbenblinden Mann, für den seine Kois vermutlich nicht orange geleuchtet hatten, sondern womöglich in ebenso prächtigem Lila.
Hans-Günther Tenbensel gestand, einen Schuss abgegeben zu haben. Aber nicht auf Groß-Böltings Taube – warum auch -, sondern auf Schmeinks Drohne, die Opa Schmeink seinem Enkel nur deshalb geschenkt habe, um sie, wenn Jason Elias in der Schule war, über die Nachbargärten schweben zu lassen und sich mittels ihrer Kamera private und gar intime Einblicke zu verschaffen. Der Schuss nach oben ging daneben, erschreckte Schmeink senior aber so sehr, dass er die Fernsteuerung verriss und die Drohne zum Absturz brachte – geradewegs in Klein-Uebbings Teich. Der Bruchpilot war daraufhin flugs ins Haus geflüchtet.
Auf Facebook wurde intensiv diskutiert, ob Drohnen über Privatgrundstücke fliegen dürften oder nicht und ob es legitim sei, sie – etwa im Falle von Spionage – abzuschießen. Unsere Nachbarschaft diskutierte nicht. Sie zog sich hinter ihre Flechtzäune und mit Schottergestein gefüllten Drahtkäfige zurück und verstummte, bis auf das übliche „Hallo“. Nachdem meiner Frau und mir bewusst geworden war, dass in einem von uns ausgelieferten Paket die verhängnisvolle Drohne gesteckt hatte, nahmen wir keine Sendungen mehr an und verteilten folglich auch keine mehr. Das mit dem Bollerwagen hatte ohnehin nicht geklappt, sowas bekomme man nur noch im Internet, hatte einer der wenigen noch in der Stadt ansässigen Händler meiner Frau gesagt, deren Fahrrad jetzt wieder im Schuppen stand.
Was wir noch mitbekamen war, dass Herr Tenbensel abgerüstet und einen wahrscheinlich selbst entworfenen Aufkleber mit dem Schriftzug „Drohnenfreie Zone“ auf seiner Mülltonne platziert hatte. Ansonsten hatten wir keine Ahnung, ob die bienenfleißigen Paketzusteller Herrn Klein-Uebbing neue Kois oder Herrn Groß-Bölting neue Tauben brachten.
Kurz vor dem nächsten Weihnachtsfest unternahm einer der Kuriere leicht hektisch und gestresst wirkend den Versuch, doch mal wieder ein Paket bei uns abzugeben, das für Familie Schmeink bestimmt war. An der Haustür hob meine Frau gleich ablehnend die Hand, wurde aber plötzlich weniger von Neugier als von vorweihnachtlicher Nächstenliebe (gegenüber dem geplagten Fahrer, nicht gegenüber den Schmeinks) übermannt und nahm den länglichen, recht schweren Karton in Empfang. Um fünf Uhr am nächsten Morgen stellte ich ihn den Nachbarn vor die Tür, die beim Auslösen des Bewegungsmelders um diese Zeit den Zeitungsboten vermuten würden.
Wir wissen nicht, ob Jason Elias, inzwischen 13, sich über das Teleskop-Fernrohr zu Weihnachten ebenso gefreut hat wie im Vorjahr über die inzwischen verschrottete Drohne. Jedenfalls, kurz nach dem Jahreswechsel, die Schule hatte gerade wieder begonnen und die Wintersonne schien, blickte meine Frau beim Fensterputzen zufällig zum Haus der Schmeinks hinüber und entdeckte dort, zwischen den sich für einen kurzen Moment bewegenden Gardinen des Dachgeschoss-Fensters das Fernrohr-Objektiv. „Was macht der da oben?“, fragte sie mich. „Sterne gucken am helllichten Vormittag? Wir müssen was tun!“ „Stimmt“, sagte ich.
Das Päckchen, das zwei Tage später ankam, war diesmal an uns adressiert. Wir öffneten es augenblicklich. Wir mussten den Laserpointer unbedingt auf frischer Tat ausprobieren.