Folge 2
… dass wir damals immer Gymnastik machten. Damit begann der Sportunterricht für unser fünftes Schuljahr. Unser Sportlehrer, gerade doppelt so alt oder jung wie wir elf- und zwölfjährigen Burschen, legte besonderen Wert darauf. Das merkten wir schon daran, dass er uns mit möglichst strengem Blick kontrollierte. Konzentriert schweigend, einzelne auch schwitzend, wetteiferten wir, wer von uns im Sitzen auf dem Turnhallenboden bei ausgestreckten Beinen die Zehen mit den Fingerspitzen berühren oder wer sich mühelos und schön gerade als „Kerze“ präsentieren konnte.
Unser Lehrer imponierte uns. Nicht nur aufgrund seiner sportlich-lässigen Art und seiner locker-flockigen Appelle an unseren Ehrgeiz. Auch weil wir aus der Zeitung erfuhren, dass er Amateurboxer war. Wir rätselten, wie das möglich war, wo er doch stets eine Brille mit dicken Gläsern trug. Einmal durfte ich ihm bei einem Kampf zusehen. Wie er, ohne seine Brille, das Beste aus seiner Kurzsichtigkeit machte, die Distanz zum Gegner mied und ständig in den Infight drängte, um den anderen aus nächster Nähe mit einem Trefferwirbel einzudecken.
Welch kuriose Erinnerung, welch paradox erscheinendes Bild in dieser Zeit des Abstands. Längst pensioniert, wird mein alter Sportlehrer jetzt vermutlich seinem Hobby nachgehen und zuhause an der Staffelei malen – Sportmotive sicherlich, Mannschaften, volle Stadien. Bilder vom Siegen und Besiegen. Das stelle ich mir vor, während ich endlich mal wieder Gymnastik mache. So gut es geht, so ähnlich wie er es uns beigebracht hat. Fit halten für die Zukunft. Auch wenn es heute Workout heißt.