Folge 8
… dass wir damals nicht weg konnten. Wir, eine Gruppe von Seminarteilnehmern und Referenten, hatten mehrere Tage lang viel Theorie getankt und abends an der Kellerbar des Tagungshauses etwas Alkohol. Am Freitagmittag war Schluss, Abreise in alle Himmelsrichtungen. Laut Plan. Der Winter aber hatte was dagegen. Er schneite uns ein, blockierte die Straßen. Nur die Ortsansässigen, Hausleitung, Bürokraft und Küchenpersonal, gelangten so eben noch nach Hause. Wir Angereisten, ein rundes Dutzend Frauen und Männer, blieben notgedrungen. Abgeschnitten, eingeschlossen.
Wir waren jetzt Selbstversorger. Statt Gruppenarbeit hatten wir unsere Verpflegung zu organisieren. Was wir in den großen Kühlschränken fanden, reichte, um alle satt zu bekommen. Mit dem Küchendienst war es wie gewohnt. Es gab diejenigen, die ungefragt Tee und Kaffee zubereiteten, Essen kochten, auftrugen, abräumten. Und diejenigen, die stets vor und nach den Mahlzeiten so tiefschürfende Gespräch führten, dass sie diese lediglich unterbrachen, um den Nudeleintopf aus der Dose über den grünen Klee zu loben. Es gab die Technik-Freaks, die die Spülmaschine trotzdem nicht in Gang brachten und welche, die die ganze Zeit mit einem Geschirrtuch in der Hand herumliefen, um allen zu zeigen, dass sie einsatzbereit waren.
Es war eine unerwartete Gelegenheit, einander kennenzulernen. Man konnte erleben, dass der bis dahin unnahbar und verkopft erscheinende Theoretiker von seiner nicht für möglich gehaltenen Bierdeckelsammlung erzählte oder von seiner stummen Kommunikation mit den Fischen in seinem Aquarium. Es gab leise Einzelgänger und laute Grüppchenbildung und das übliche streng demokratische Abstimmungsverfahren über Musik- und Fernsehkonsum.
Natürlich kam die Frage auf, „was wir denn nun mal gemeinsam machen“. Einige durchsuchten die Räumlichkeiten nach irgendwelchen Brettspielen, andere kamen auf andere Gesellschaftsspiel-Klassiker wie Scharade, Flaschendrehen oder die Reise nach Jerusalem.
Während der Großteil der Gruppe darüber diskutierte, gelangte ich in einen Nebenraum, und fand dort meinen Dozenten-Kollegen Günter G., umringt von einer kleinen Schar Seminarteilnehmer. Dass mein Kollege fachlich viel drauf hatte, wusste ich. Aber hier ging es nicht um eine Sonderschicht zur Weiterbildung, wie mir schnell klar wurde, als ich ihn vorlesen hörte. Dieser ruhige, unaufdringliche, bodenständige Typ nahm den banalen Alltag um sich herum mit feinem Gespür auf, hielt ihn schriftlich fest und spiegelte ihn uns Zuhörern ganz unaufgeregt und ganz selbstverständlich fein pointiert. Er ließ uns beispielsweise im Baumarkt dabei sein, wo er zum stolzen Besitzer des Schwenkgrills Kentucky wurde – nachdem er sich zuvor mühsam gegen seine Frau behauptet hatte, die lieber die Hollywoodschaukel Sunset gehabt hätte. Und gegen Enkel Timo, den er statt des ersehnten Planschbeckens Arielle mit einem Spaghetti-Eis ruhiggestellt hatte. Wir erlebten drei ältere Herren, die sich gegenseitig mit der Zahl ihrer Bypässe überboten, und wir hatten einen turbulenten Flug mit dem Kegelklub „Hau wech“ nach Malle.
Ich merkte kaum, dass wir mehr wurden. Dass nach und nach einer nach dem anderen das Gesellschaftsspielen sein ließ und sich leise zu uns gesellte, bis schließlich unsere gesamte Winter-Wochenend-Notgemeinschaft beisammen war. Wir alle lauschten und lächelten, wir hatten keine Eile, dass dieser Abend zu Ende ginge, dass der Winter weichen und uns hier raus lassen würde. Raus in den gewohnten, normalen Alltag, der so war wie in diesen Geschichten – so schräg, so schrecklich und so schrecklich schön.