Folge 10

… dass es Bücherwände gibt. Es gibt sogar Räume, die ringsum ausschließlich aus solchen Wänden bestehen. Bei ihrem Anblick dachte ich mir, dass das zur Isolierung gegen Kälte oder auch gegen störenden Lärm dienen könnte. Mit dem Nachteil allerdings, dass sie Staub geradezu anziehen. Das verursacht Arbeit, aber das Entstauben ist schon deshalb wichtig, weil eine Bücherwand eine Art überdimensionale Visitenkarte ist. Als ein Bekannter mich zum ersten Mal besuchte, schritt er gleich meine Literatur- und Sachbuch-Sammlung ab – wechselweise lächelnd, nickend und stirnrunzelnd und schließlich mit der vieldeutigen Bemerkung „Interessant, interessant.“ Anhand der Buchtitel meinte er offenbar, mich ein Stück weit „lesen“ zu können: Zeige mir deine Bücherwand, und ich sage dir, wer du bist.

Allerdings kann der bloße Blick auf die imponierende Wand mitunter täuschen. Irgendwo, ich weiß nicht mehr wann und bei wem, führte der Weg durchs Haus unvermeidbar an einem großen, schweren Eichenregal entlang, dessen Borde sich unter lauter dicken Klassiker-Bänden mit Goldprägung zu biegen schienen. Unbeobachtet traute ich mich, einen davon herauszuziehen und in die Hand zu nehmen. Viel leichter als gedacht war dieser Schinken, und er ließ sich nicht durchblättern: Nichts als eine hohle Schachtel, und für die Bände daneben galt das auch. Noch raffiniertere Bildungsbluffer bringen in solchen prestigeträchtigen Attrappen ihren Cognac oder Whisky unter.

In diesen Tagen streifte mein Blick geruhsam durchs Wohnzimmer und blieb an meiner Bücherwand hängen. Die Bücher dort wenden einem den Rücken zu, man gewöhnt sich an sie als starre Bestandteile des Raumes, als bloßer Nippes, als hätten sie kein Innenleben. In diesen Tagen, in denen manche, die kaum noch ein Buch im Haus haben, einen historischen Wendepunkt zur totalen Digitalisierung sehen, erschien mir das wie eine letzte Gelegenheit, vor langer Zeit Gelesenes und auch Ungelesenes wieder oder neu zu entdecken. Ich kam auf die Idee, in meine Bücherwand „einzusteigen“ – mal so richtig von unten nach oben, voller Ehrgeiz, quasi vom Basislager Wohnzimmer emporzukraxeln, Bord für Bord, bis zum Gipfel kurz unterhalb der Zimmerdecke.

Meine ersten Schritte galten den Sagen des klassischen Altertums. Dann ging es weiter, Zentimeter um Zentimeter: Über Fontane, Storm, Hesse, Thomas Mann, bis hin zu Kafka und Brecht. Nein, kein literarischer Höhenrausch, immer nur hierhin und dorthin vortastend auf meinem Erkundungspfad, mit Unterbrechungen und ganz ohne Hast.

Anfangs musste ich mich besonders konzentrieren, um mich im abwechslungsreichen Terrain zurechtzufinden. Aber je weiter ich beim Erklimmen der Bücherwand vorankomme, desto besser geht es und desto gespannter bin ich auf Eindrücke und Erlebnisse. Und auf wiederentdeckte Fundstücke aus der Schulzeit – Böll, Dürrenmatt, Frisch, nach Jahrzehnten. Auch Camus, aber nicht „Die Pest“, die plötzlich angeblich ein Bestseller ist.

Schon weit oben, nähere ich mich Goethe. Ein dicker Brocken, könnte man meinen, aber ich fühle mich inzwischen zunehmend bewandert. Erstaunt entdecke ich, dass das Genie die aktuelle Situation vorausgesehen zu haben scheint: „Man kann nicht immer zusammenstehn, am wenigsten mit großen Haufen.“ Und er wusste auch: „Im Grunde aber sind wir alle kollektive Wesen.“ Eben darin liegt ja jetzt das Problem. Und so „reden und träumen die Menschen viel von bessern künftigen Tagen“, stellt Goethes Regal-Nachbar Schiller zum Prinzip Hoffnung fest. Und dann erblicke ich, als letztes Werk ganz oben in der Wand, Funny van Dannens Titel „Zurück im Paradies“. Welch eine Aussicht!

„Du solltest langsam mal runterkommen“, höre ich meine Frau sagen. „Du musst noch einkaufen. Und vergiss nicht die Maske.“